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28. Oktober 2019 // Nadine Faust


»Remember Odessa«: ein künstlerischer Dokumentarfilm von Wilhelm Domke-Schulz

Der andere Ukraine-Konflikt

Das Bild zeigt einen lila-weißen Fliederstrauß, der an einem Mauerpfosten befestigt ist. Darunter hängt an er Mauer ein Trauerbanner in russischer Schrift. Links neben dem Strauß ein gerahmtes Marien-Bildnis.

Foto: Wilhelm Domke-Schulz

2. Mai 2014, Odessa im Süden der Ukraine. Menschen sind im Gewerkschaftshaus eingeschlossen, Feuer brechen aus, fast 50 Personen sterben. Die Einschätzungen ob dieses Ereignisses könnten nicht weiter voneinander entfernt sein. Während die einen behaupten, prorussische Aktivisten hätten sich im Haus verschanzt und mitunter die Feuer selbst gelegt, sieht die andere Seite eine Verfolgung von Antimaidan-Anhängern durch rechte Nationalisten gegeben.

 

So auch Wilhelm Domke-Schulz. Er hat Freunde und Bekannte in Odessa. Durch frühere Produktionen und Recherchen hat er sie kennengelernt. Die Ereignisse vom 2. Mai 2014 betreffen ihn somit persönlich. Der Filmemacher selbst wird 1956 in Ostberlin geboren und macht eine Lehre zum Feinmechaniker im DEFA-Kopierwerk in Johannisthal, studiert im Fernstudium Kulturwissenschaften in Meißen und anschließend Dramaturgie an der Hochschule für Film und Fernsehen Konrad Wolf in Potsdam-Babelsberg. Schon von Kindesbeinen an ist der Film ein wichtiger Bestandteil seines Lebens, denn ein väterlicher Freund ist Produktionsleiter bei der DEFA, Abteilung Spielfilm. „Da war ich von klein auf bei Drehs, im Studio, bei Produktionsberatungen, im Kameralager oder in der Trickabteilung dabei. Das war meine Beschäftigung nach der Schule. Ich kannte schon als Kind alle Ecken im DEFA-Studio in Babelsberg“, erzählt er.

 

Nach dem Studium kehrt Domke-Schulz der Hauptstadt den Rücken und zieht in die Region Leipzig. 1991 gründet er die Produktionsfirma domke-schulz-film und produziert journalistische Beiträge für MDR, ARD, RBB, NDR und WDR. Die Vorgänge vom 2. Mai 2014 will der Filmemacher aber in ein Spielfilmprojekt gießen. Doch eine Produktion in der Ukraine, die finanziell deutlich einfacher zu stemmen wäre als in Deutschland, scheitert an den verschiedenen Lagern. Er entscheidet sich letztlich für den künstlerischen Dokumentarfilm, der seine persönliche Sichtweise und Meinung wiedergibt und eine emotionale Spielfilmdramaturgie aufweist.

 

Das Problem: Aus seiner Sicht klären deutsche und westliche Medien nur einseitig über den Konflikt auf. Jegliche Berichterstattung, die prorussisch oder pro Putin wirken könnte, würde vermieden. Er macht den Film trotzdem: „Weil ich es will, weil es mir mein Gewissen gebietet, weil ich es kann, weil es schlichtweg raus musste.“ Vier Jahre dauert die Vorbereitung. „Gespräche mit verschiedensten Bekannten, Freunden, Zeugen aus Odessa aus den verschiedensten Lagern – jeder aus seiner Sicht, aus seinem Wissen. Bis sich mir nach und nach – wie ein Puzzle oder Mosaik – die Abfolge des Geschehens, die Konfliktparteien, der Konflikt an sich allmählich erschlossen hat.“ Am 1. und 2. Mai 2018 schließlich ist Domke-Schulz allein in Odessa unterwegs und filmt die Gedenkveranstaltung sowie die Gegendemo. „Die konkreten Personen kannte ich aus der Vorrecherche, zu der es gehört hat, dass ich mir so gut wie alles angesehen habe, was es an Filmen über den 2. Mai gibt. Vor allem die unendlichen Stunden an Handyaufnahmen dazu im Internet. Persönlich kannte ich die Protagonisten vorher nicht. Ich habe sie vor Ort getroffen, sofort angesprochen und dann filmisch begleitet“, erzählt er. Das Demogeschehen sei authentischer, als wenn die Protagonisten auf einer Parkbank sitzen würden, fügt er noch hinzu.

 

Den Berliner Fotografen Frank Schumann lernt Domke-Schulz während dieser Reise zufällig kennen und verwendet seine Bilder später für den Film. Für die Darstellung des 1. und 2. Mai 2014 nutzt er Fotos eines Stadtverordneten aus Odessa sowie Handyaufnahmen zweier Odessiten – einer vom Antimaidan, der andere sieht sich selbst als neutralen Blogger. In der Tradition des antifaschistischen Films – besonders Michail Romms „Der gewöhnliche Faschismus“ hebt er hervor – hat Domke-Schulz die Bilder in Schwarz-Weiß zusammengefasst. „Ich bin von Kindheit an mit dem antifaschistischen Film verwurzelt,“ sagt er und fährt fort mit dem Filmtheoretiker Siegfried Kracauer, der sich schon nach der Erfindung des Farbfilms vehement dagegen ausgesprochen hat. „Ein Schwarz-Weiß-Film ist immer wesentlich dramatischer und inhaltsbezogener. Der Zuschauer konzentriert sich mehr darauf, worum es eigentlich geht, und wird durch Farbe nicht so abgelenkt. Deswegen hat man gerade im antifaschistischen Bereich viele Schwarz-Weiß-Filme“, fasst Domke-Schulz zusammen. Nahezu gespenstisch wirken in „Remember Odessa“ dabei die Aufnahmen, die direkt nach dem Brand im Gewerkschaftshaus entstanden sind. Der schlechten Qualität der Handyaufnahmen geschuldet, sind sie in ihrer Verschwommenheit umso eindringlicher. Man fürchtet, was man nicht sieht.

 

Die Auswertung des fertigen Dokumentarfilms gestaltet sich schwierig, denn Wilhelm Domke-Schulz hat ihn völlig unabhängig produziert. „Man kann am freiesten einen Film machen, wenn man völlig frei von allem ist – von Förderkommissionen, von der damit verbundenen Bürokratie, die damit verbundenen Zeit- und organisatorischen Zwänge. Auch Geldgeber sind hemmend – weil man sich zumindest unterbewusst damit beschäftigt, ob man sich ihres Wohlwollens versichern kann, ob man ihre Erwartungen erfüllt.“ Bisher konnte der Film nur in Russland gezeigt werden. Im Frühjahr gab es Pressevorführungen in St. Petersburg und Moskau, das Medienecho war laut Domke-Schulz groß. „Die eigentliche Hauptfrage war immer wiederkehrend, vom Wesen her verwundert-neugierig: ‚Wie kommt denn bloß ein deutscher Regisseur auf die Idee, einen Film über Odessa zu machen?‘“ Seit ein paar Wochen liegt nun eine deutsche Untertitelung vor, eine englische ist in Arbeit. Damit kann Domke-Schulz an verschiedene Festivals und Verleiher herantreten. Ein Spielfilm über Odessa würde ihn nach wie vor reizen, vielleicht eine Romeo-und-Julia-Geschichte. Derweil schreibt er an seinem zweiten Buch. Das erste, »Werners wundersame Reise durch die DDR«, ist soeben im Verlag am Park erschienen.

 

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